Kapitel 40
Nat, 26. Juni 2009
Irgendwas stimmt nicht. Als ich am Freitagmorgen in der Kanzlei der Sterns eintreffe, ist mein Dad in einer Besprechung mit Marta und Sandy in Sterns Büro. Die drei sollen unter keinen Umständen gestört werden. Nachdem ich fünfundvierzig Minuten im Empfangsbereich zwischen den Steakhausmöbeln gewartet habe, taucht Sandys Sekretärin auf und richtet mir aus, ich solle schon zum Gericht gehen. Das Team der Verteidigung werde gleich nachkommen.
Als ich dort eintreffe, ist auch von der Anklagevertretung noch nichts zu sehen. Von meinem Platz in der vordersten Reihe schicke ich Anna eine SMS: »Irgendwas stimmt hier nicht. Sandy kranker?? Sehr mysteriös.«
Endlich kommt Marta herein, aber sie hastet geradewegs durch den Gerichtssaal und verschwindet durch die Tür, die zu den Amtsräumen des Richters führt. Als sie wieder herauskommt, bleibt sie nur kurz bei mir stehen.
»Wir sind in Gesprächen mit den Anklägern«, sagt sie. »Was ist denn los?«
Ihr Gesichtsausdruck ist verwirrt und liefert mir keinerlei Anhaltspunkte.
Wenige Minuten später lugt Richter Yee in den Gerichtssaal, um nach dem Rechten zu sehen. Ohne seine Robe sieht er aus wie ein Fand, das sich an der Tür herumdrückt und hofft, nicht bemerkt zu werden, und als er mich erblickt, winkt er mich zu sich.
»Kaffee?«, fragt er, als ich in dem hinteren Gang ankomme.
»Gern«, sage ich.
Wir gehen weiter in sein Amtszimmer, wo ich mir einen Moment lang die gerahmten Notenblätter an den Wänden anschaue. Ich bemerke, dass eines von Vivaldi signiert ist.
»Wir müssen auf beide Parteien warten«, erklärt der Richter ohne weitere Erläuterungen. Ich sitze fest im Zeugenland, in dem ich keine Fragen stellen darf, schon gar nicht dem Richter. »Und, was meinen Sie?«, fragt er, als er für uns beide Kaffee geholt hat. Der Richter zieht eine Schublade an dem großen Schreibtisch auf und benutzt sie als Fußstütze. »Werden Sie mal Prozessanwalt wie Ihr Dad?«
»Ich glaube nicht, Euer Ehren. Ich glaube, dafür hab ich nicht die Nerven.«
»Oh, ja«, sagt er. »Ist schlecht für die Nerven. Viele Trinker. Gericht macht viele zu Trinkern.«
»Das sollte mir wohl auch zu denken geben, aber ich meinte eigentlich, dass ich nicht die Persönlichkeit dafür habe. Ich fühle mich nicht richtig wohl, wenn ich Aufmerksamkeit auf mich ziehe. Für so was bin ich nicht geschaffen.«
»Das weiß man nie«, sagt er. »Bei mir? Wie ich rede? Alle haben gesagt, Nichts für dich. Alle lachen - sogar meine Mama. Dabei sie spricht keine drei Worte Englisch.«
»Und wie ging es dann weiter?«
»Ich hatte die Idee, wissen Sie? Ich war Junge. Hab Perry Mason in Fernsehen gesehen. Ach, ich liebe Perry Mason. In Highschool ich bekam Job bei Zeitung. Nicht als Reporter. Als Verkäufer. Tribune von hier. Tribune wollte auch bei uns mehr Abonnenten. Also ich klappere Türen ab. Die meisten Menschen sehr nett, aber alle hassen die Stadt. Wollen keine Zeitung aus der Stadt. Alle sehr nett zu mir. >Nein, Basil. Dich wir mögen, aber nicht die Zeitung.< Außer ein Mann. Großer Mann. Ein Meter neunzig. Hundertdreißig Kilo, vielleicht hundertvierzig. Weißes Haar. Irre, irre Augen. Und der mich sieht und kommt aus Tür, als ob er mich umbringen will. >Mach, dass du wegkommst. Japse haben drei Freunde von mir umgebracht. Hau ab.< Und ich will erklären. Japaner haben auch meinen Großvater getötet. Aber er hört nicht zu. Will nicht zuhören.
Also bin ich nach Hause. Meine Mama, mein Daddy sagen: >So ist Mensch. Hört nicht zu. So sind Leute.< Aber ich denke, Nein, ich kann ihm Dinge erklären. Wenn er zuhören muss, kann ich machen, dass er versteht. Und ich denke an Perry Mason. Und Geschworene. Die müssen zuhören. Das ist ihre Aufgabe. Zuhören. Und okay, ich spreche Englisch nicht gut. Hab versucht und versucht. Ich schreibe wie ein Professor. Immer Einsen in der Schule. Aber wenn ich spreche, kann ich nicht denken. Ehrlich. Wie Maschine, die klemmt. Aber ich sage mir, Menschen können verstehen. Wenn sie zuhören müssen. Oberstaatsanwalt bei uns - Morris Loomis - ich kenne ihn seit Grundschule. Sein Sohn Mike und ich gute Freunde. Und nach Jurastudium, Morris sagt: >Okay, Basil. Ich gebe dir eine Chance. Aber wenn du verlierst, dann du schreibst Schriftsätze<. Und mein erster Fall vor Gericht, ich stehe auf und sage: >Ich spreche Englisch nicht gut. Verzeihung. Ich spreche langsam, damit Sie verstehen. Aber Fall geht nicht um mich. Geht um Zeugen. Um Opfer. Die Sie müssen verstehen.< Und die Geschworenen alle nicken. Okay. Und dann, zwei Tage, drei Tage, sie alle verstehen. Jedes Wort. Und ich gewinne. Habe Prozess gewonnen. Habe zehn Geschworenenprozesse hintereinander gewonnen, bevor ich verliere zum ersten Mal. Manchmal auf Geschworenenbank einer flüstert zum anderen: >Was er gesagt?< Aber ich ihnen immer sage: >Fall geht um Zeugen. Nicht um mich. Nicht um Verteidiger, auch wenn er spricht viel besser. Geht um Zeugen. Um Beweise. Hören Sie gut zu und dann Sie entscheiden.< Geschworene immer denken: Der Mann da, der nichts versteckt. Ich immer gewinne.
Deshalb man weiß nie. Gerichtsverfahren oft unerklärlich, was Geschworene verstehen und was nicht. Wissen Sie?«
Ich muss laut lachen. Ich mag Richter Yee.
Wir unterhalten uns eine Weile über klassische Musik. Richter Yee kennt sich da aus. Ich erfahre, dass er Oboe spielt und im Stadtorchester von Ware ist und oft seine Mittagspause zum Üben nutzt. Er hat eine Oboe, die so gedämpft ist, dass die Töne nur ein paar Meter weit reichen, und er spielt mir sogar ein Stück von Vivaldi vor, als Verneigung vor dem Notenblatt an der Wand. Ich habe von Musik wenig Ahnung, obwohl sie mich als Kommunikationsform interessiert. Aber wie die meisten Kinder hab ich mich jahrelang mit Klavierunterricht gequält, bis meine Mom endlich ein Einsehen hatte. E-Musik steht bei mir mit auf der Liste von Dingen, mit denen ich mich beschäftigen werde »Wenn ich groß bin«.
Als der Richter gerade ein weiteres Stück spielen will, klopft es an der Tür. Marta ist da.
»Euer Ehren«, sagt sie, »wir brauchen noch ein bisschen Zeit. Mein Vater möchte mit Nat sprechen.«
»Mit mir?«, frage ich.
Ich folge ihr den Korridor hinunter zu einem Raum, der Anwälten für kurze Besprechungen zur Verfügung steht. Er ist fensterlos und kaum größer als ein Schrank, und das Mobiliar besteht aus einem ramponierten Schreibtisch und zwei alten Holzsesseln. In einem davon sitzt Sandy. Er sieht heute Morgen nicht besonders gut aus. Der Ausschlag ist besser, aber er wirkt erschöpft.
»Nat«, sagt er, versucht aber gar nicht erst aufzustehen, um mich zu begrüßen. Ich gehe zu ihm und schüttele ihm die Hand, dann bedeutet er mir, Platz zu nehmen. »Nat, Ihr Vater hat mich gebeten, mit Ihnen zu sprechen. Wir haben uns mit der Anklagevertretung auf einen Kompromiss verständigt.«
Seit das alles losging, hab ich schon oft gedacht, Menschenskind, so einen Schock werde ich nicht noch mal erleben. Und dann passiert wieder irgendwas, das mich glatt umhaut.
»Ich weiß, das kommt jetzt überraschend«, sagt Stern. »Die Mordanklage gegen Ihren Vater wird abgewiesen. Dafür wird die Staatsanwaltschaft in wenigen Minuten eine Klage einreichen, die ihm Behinderung der Justiz zur Last legt, und er wird sich schuldig bekennen. Es ging heute Morgen ganz schön hin und her zwischen uns und Molto und Brand. Ich wollte ihnen anbieten, dass Rusty sich wegen Missachtung des Gerichts schuldig bekennt, womit die Möglichkeit bestanden hätte, dass er seine Pension behält, aber sie bestehen darauf, dass es eine Straftat sein muss. Unterm Strich kommt dasselbe dabei raus. Ihr Vater wird zwei Jahre in Gewahrsam genommen. Und dann kann er sein Leben weiterführen.«
»>Gewahrsam<?«, sage ich. »Sie meinen Gefängnis?«
»Ja. Wir haben uns auf die staatliche Arbeitsfarm geeinigt. Unterste Sicherheitsstufe. Er wird nicht weit weg sein.«
»>Behinderung der Justiz<? Was hat er gemacht?«
Stern lächelt. »Tja, das war heute Morgen eines der Hauptprobleme. Er wird gestehen, dass er schuldig ist, dass er bewusst und vorsätzlich die Justiz in seinem Fall behindert hat. Aber er wird nicht ins Detail gehen. Ich vermute, er will niemand anderen mit hineinziehen, aber noch nicht mal das will er zugeben. Molto war nicht zufrieden damit, aber er weiß, dass diese Absprache wahrscheinlich das Beste ist, was er rausschlagen kann. Also haben wir uns geeinigt. Ihr Vater wollte, dass ich Ihnen das sage.«
Ich zögere nicht. »Ich muss mit meinem Dad sprechen.«
»Nat -«
»Ich muss mit ihm sprechen.«
»Wissen Sie, Nat, als ich in dieser Branche anfing, hab ich mir geschworen, niemals einen unschuldigen Menschen sich schuldig bekennen zu lassen. Dieser Vorsatz hat nicht mal mein erstes Berufsjahr überlebt. Ich vertrat damals einen jungen Mann. Einen anständigen jungen Mann. Arm. Er war im trostlosesten Teil von Kehwahnee aufgewachsen und hatte es trotzdem geschafft, sich mit seinen zwanzig Jahren nicht ein einziges Mal Ärger mit der Polizei eingehandelt zu haben. Was Bände über seinen Charakter spricht. Aber eines Tages war er mit Freunden zusammen im Auto unterwegs, sie tranken ein paar Flaschen Schnaps, und einer von ihnen sah einen Mann, der seine Mutter betrogen hatte, und dieser junge Mann hatte eine Pistole in der Tasche und erschoss den Fremdgeher durchs Autofenster, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen. Mein Mandant hatte nichts mit dem Mord zu tun. Gar nichts. Aber Sie wissen ja, wie so etwas läuft. Der Mörder behauptete, seine Freunde wären bei ihm im Auto gewesen, weil sie ihm helfen wollten, das Opfer zu suchen. Er log, um der Todesstrafe zu entgehen, die damals hier im County schon mal schnell verhängt wurde. Und so wurde mein Mandant wegen Mordes angeklagt. Die Vernunft sagte den Anklagevertretern, dass mein Mandant nichts damit zu tun hatte. Aber sie hatten einen Zeugen. Und sie boten meinem Mandanten eine Bewährungsstrafe an, wenn er sich einer minder schweren Straftat schuldig bekannte. Dieser junge Mann wollte Polizist werden. Und er wäre ein sehr guter Polizist geworden. Aber er bekannte sich schuldig. Und sein Leben nahm eine völlig andere Richtung. Aber seine Entscheidung war offensichtlich richtig. Er wurde Fliesenleger, hat heute eine eigene Firma, drei Kinder, die alle studiert haben. Ein Sohn von ihm ist Anwalt, nur wenig älter als Sie.«
»Was wollen Sie damit sagen, Sandy?«
»Dass ich gelernt habe, in solchen Fragen dem Urteil meiner Mandanten zu vertrauen. In einer solchen Situation ist niemand besser in der Lage, die Vorteile und Risiken einzuschätzen.«
»Dann glauben Sie nicht, dass er schuldig ist?«
»Ich weiß es nicht, Nat. Aber er beharrt darauf, dass es so am besten ist.«
»Ich muss meinen Vater sehen.«
Ich vermute, dass er zusammen mit Marta ein paar Zimmer weiter im Zeugenraum ist, und Stern will mit ihm sprechen, ehe ich das tue. Ich helfe Sandy auf die Beine. Ich bin nur wenige Minuten allein, aber als mein Vater hereinkommt, habe ich bereits angefangen zu weinen. Das Überraschende ist, dass er heute Morgen besser aussieht als seit Monaten. Er wirkt wieder so, als hätte er alles im Griff.
»Sag mir die Wahrheit«, sage ich, sobald ich ihn sehe. Prompt muss er lächeln. Er beugt sich vor, um mich zu umarmen, und setzt sich dann in den Sessel, in dem Stern gesessen hat.
»Die Wahrheit ist«, sagt er, »dass ich deine Mutter nicht getötet habe. Ich habe nie jemanden getötet. Aber ich habe die Justiz behindert.«
»Wie denn? Ich glaube nicht, dass du das mit dem Computer hinbekommen hättest. Ich glaub's einfach nicht.«
»Nat, ich bin groß. Ich weiß, was ich getan habe.«
»Du verlierst alles«, sage ich.
»Nicht meinen Sohn, hoffe ich.«
»Wovon willst du hinterher leben? Du gestehst eine Straftat, Dad.«
»Dessen bin ich mir bewusst.«
»Du verlierst deine Stelle als Richter, deine Zulassung als Anwalt, sogar deine Pensionsansprüche.«
»Ich werde versuchen, dir nicht zur Last zu fallen.« Er lächelt wieder. »Nat, es ist ein Kompromiss. Ich bekenne mich einer Tat schuldig, die ich begangen habe, und sitze die Strafe ab, um nicht Gefahr zu laufen, für etwas verurteilt zu werden, dessen ich völlig unschuldig bin. Ist doch gar nicht so schlecht, oder? Sobald Richter Yee entschieden hat, ob die Computerbeweise zugelassen werden oder nicht, wird eine Partei die Oberhand haben, und dann ist diese Lösung nicht mehr möglich. Es wird Zeit, dass wir das Ganze hinter uns bringen und endlich wieder nach vorne schauen. Du musst mir die vielen Dummheiten verzeihen, die ich in den letzten zwei Jahren gemacht habe. Aber ich habe sie gemacht, und es ist nicht falsch, dass ich dafür bezahle. Ich kann mit diesem Ergebnis leben, und du solltest das auch können.«
Wir stehen gleichzeitig auf, und ich umarme meinen Vater, haltlos schluchzend. Als wir uns wieder voneinander lösen, laufen auch dem Mann, der nie weint, Tränen übers Gesicht.
Die Verhandlung wird in wenigen Minuten beginnen. Irgendwie hat sich im Gericht rumgesprochen, was passieren wird, und die Freizeitjuristen und Staatsanwälte strömen gleichzeitig mit mindestens einem Dutzend Journalisten in den Saal. Ich bringe es zunächst nicht über mich, hineinzugehen. Ich bleibe an der Tür stehen, weil mir die Sicherheitsleute erlaubt haben, die Verhandlung durch das kleine Fenster in der Tür zu beobachten. Es gibt so viel Kummer in diesem Gebäude, das durchdrungen ist von der Angst der Opfer und der Angeklagten und ihrer Angehörigen, und ich glaube ernsthaft, dass die Menschen, die hier tagtäglich arbeiten, wild entschlossen sind, besonders nett zu Leuten wie mir zu sein, die ohne eigenes Zutun in den Mähdrescher der Justiz geraten sind. Einer von ihnen, ein älterer Latino, legt mir sogar kurz eine Hand auf den Rücken, als die Sitzung beginnt und mein Vater sich erhebt, um zwischen Marta und Sandy vor Richter Yee zu stehen. Brand und Molto stellen sich auf der anderen Seite neben Stern. Mein Dad nickt und sagt etwas. Die Ankläger reichen Papiere hoch, wahrscheinlich die ausformulierte Vereinbarung und die neue Anklage, und der Richter beginnt, meinem Dad Fragen zu stellen, ein komplizierter Vorgang, der schon einige Minuten währt, als ich Anna sehe. Ich habe ihr nur wenige Minuten zuvor eine SMS geschickt: »Mein Dad bekennt sich schuldig wegen Justizbehinderung, um den Fall zu beenden.« Jetzt kommt sie rasant auf ihren hohen Absätzen den Flur heruntergefegt, eine Hand am Ausschnitt ihrer Bluse, weil ihr Büro-Outfit nicht für solche Sprints geeignet ist. »Das darf nicht wahr sein«, sagt sie.
Ich erkläre, was ich kann, dann betreten wir Hand in Hand den Gerichtssaal und gehen zu den Plätzen in der vordersten Reihe, die immer noch für die schrumpfende Familie meines Vaters reserviert sind. Richter Yee blickt kurz zu mir hoch und schickt ein kaum merkliches Lächeln der Beruhigung in meine Richtung. Dann schaut er wieder nach unten in das Verfahrensbuch vor ihm, das die vorgeschriebenen Fragen enthält, die ein Richter stellen muss, ehe er ein Schuldeingeständnis akzeptiert. Mir fällt auf, dass Richter Yee den vorgegebenen Text ohne die üblichen grammatischen Fehler verliest, die ihm unterlaufen, wenn er frei spricht, wenngleich sein Akzent nach wie vor stark ist.
»Richter Sabich, bekennen Sie sich in diesem einen Anklagepunkt schuldig, weil Sie die darin beschriebene Straftat tatsächlich begangen haben?«
»Ja, Euer Ehren.«
»Also gut. Ich bitte die Anklagevertreter, die faktischen Grundlagen für die Anklage darzulegen.«
Jim Brand ergreift das Wort. Er erläutert die technischen Details im Zusammenhang mit dem Computer, das »Objekt«, das sich jetzt auf der Festplatte meines Vater befindet, aber Anfang November, als ein Image der Festplatte erstellt wurde, noch nicht darauf war. Dann fügt er hinzu, dass ein Nachtwächter im Gerichtsgebäude, Anthony Potts, bereit ist, vor Gericht auszusagen, dass er meinen Vater im letzten Herbst nachts dort in den Gängen gesehen hat und dass mein Vater allem Anschein nach eilig die Flucht ergriff, als er Potts bemerkte.
»Also gut«, sagt Richter Yee und blickt wieder in sein Buch. »Mr Stern, beweisen die dargelegten faktischen Grundlagen nach Auffassung der Verteidigung hinreichend, dass Richter Sabich die ihm zur Last gelegte Straftat begangen hat?«
»Das tun sie, Euer Ehren.«
»Richter Sabich, stimmen Sie Mr Stern in dieser Frage zu?«
»Ja, Euer Ehren.«
»Also gut«, sagt Yee und klappt das Buch zu. Jetzt redet er wieder frei.
»Das Gericht spricht beiden Parteien Anerkennung aus, weil sie diesen Fall zu sehr gutem Abschluss gebracht. Dieser Fall sehr sehr kompliziert. Das Ergebnis, auf das Verteidigung und Anklage sich verständigt, ist nach Auffassung von Gericht für Staat und Angeklagten gerecht.« Er nickte mehrere Male, als wollte er diese Meinung auch den Journalisten aufzwingen, die jenseits des Mittelgangs in der ersten Reihe sitzen.
»Okay«, sagt er. »Gericht befindet, Schuldbekenntnis hinreichend belegt, und akzeptiert das Schuldbekenntnis des Angeklagten Roz« - er verhaspelt sich mit dem Namen, sodass er ein bisschen wie »Rosy« klingt - »Sabich gemäß Anklagepunkt 09-0872. Die Klage 08-2456 wird in allen Punkten vorbehaltlos abgewiesen. Richter Sabich, der Sheriff von Kindle County wird Sie für die Dauer von zwei Jahren in Haft nehmen. Die Verhandlung ist geschlossen.« Er knallt seinen Hammer auf den Tisch.
Mein Vater schüttelt Sandy die Hand und küsst Marta auf die Wange, dann wendet er sich zu mir um und erstarrt. Ich brauche einen Moment, bis mir klar wird, dass er auf Anna reagiert. Sie ist das erste Mal im Gericht, und er hat sie offensichtlich nicht erwartet. Wie ich hat auch sie die letzten zehn Minuten lautlos geweint, und ihr Make-up ist völlig verschmiert. Er bedenkt sie mit seinem komplexen kleinen Lächeln, dann sieht er mich an und nickt. Er wendet sich ab und legt, ohne dass irgendwer es ihm sagt, die Hände auf den Rücken. Er ist für diesen Augenblick bereit. Mir kommt der Gedanke, dass er ihn in seinen Träumen wahrscheinlich schon hundertfach durchlebt hat.
Manny, der Deputy Sheriff, legt meinem Dad Handschellen an. Er flüstert ihm irgendwas zu, will sich wahrscheinlich vergewissern, dass sie nicht zu eng sind, dann schiebt er meinen Dad zu einer Seitentür, hinter der er in einer kleinen Zelle warten wird, bis man ihn zusammen mit den übrigen Angeklagten, die heute Morgen verurteilt wurden, zum Gefängnis transportiert.
Mein Vater verlässt den Gerichtssaal, ohne auch nur noch einmal zurückzuschauen.